Hartz-IV-Sanktionen: Kürzungen über 30% sind verfassungswidrig

Geschrieben am 06.11.2019
in: Positionen

Im Urteil vom 5. November stuft das Bundesverfassungsgericht Kürzungen des Leistungsbezugs im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) (Grundsicherung für Arbeitsuchende) von mehr als 30% als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ein.

Das NBI begrüßt diese Entscheidung. Im Vorfeld hat Bernhard Emunds stellvertretend für das NBI eine gemeinsame Erklärung von Verbänden, Gewerkschaften, Vertreter*innen von politischen Parteien und der Wissenschaft mitunterzeichnet: "Grundsicherungsbeziehende fördern statt Eingriffe ins Existenzminimum!"

"Die bisherige Praxis im SGB II ist nicht geeignet eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Sanktionen führen vielmehr zu Verschuldung, Obdachlosigkeit und einer immer weiterer Entfernung vom Arbeitsmarkt“, bekräftigt Gerwin Stöcken, der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, in der das NBI Gastmitglied ist. In der Erklärung heißt es weiter: „Wir erwarten nunmehr, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben macht und die Sanktionen im SGB II deutlich beschränkt. Gefordert ist vielmehr ein Kurswechsel im SGB II-Regime. Beschäftigungs- und Sozialpolitik sollte auf Sanktionen und Druck verzichten und die Motivation und Selbstbestimmung der Menschen unterstützen. Nur so kann Arbeit eine positive Rolle im Leben der Betroffenen einnehmen anstatt prekäre Beschäftigung zu befördern.“ Diese Forderung unterstützen wir ausdrücklich.

Bundesverfassungsgericht - Presse - Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-074.html
Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten. Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und  soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.