Tafelläden – Zeichen gesellschaftlicher Spaltung. Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer, der Sozialpolitik und der Sozialethik

von Michael Wolff

Vor über 20 Jahren wurde die erste Lebensmittel-Tafel in Deutschland, die Berliner Tafel, gegründet. Seitdem haben sich die Tafeln bezüglich Anzahl und Konzeption stark weiterentwickelt. Es sind heute mehr als neunhundert Tafeln, die landauf landab Bedürftige mit Lebensmitteln und zum Teil auch anderen Gebrauchswaren versorgen, die ansonsten vernichtet würden. Etwa ein Drittel der Tafeln oder tafelähnlichen Einrichtungen werden von Kirchengemeinden, Caritas oder Diakonie organisiert (vgl. Dietz 2013: 60).

Es ist unbestritten, dass Tafelläden und weitere existenzunterstützende Dienste, wie zum Beispiel Kleiderkammern, unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen notwendig sind. Sie leisten für viele Menschen einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag, weil sie die unzureichenden Grundsicherungsleistungen des Staates ergänzen (vgl. Segbers 2011: 478). So einleuchtend die unmittelbare Linderung der Not auch ist, so unbestritten ist auch die Kritik an der Tafelarbeit; denn Tafelläden sind Teil einer ungerechten Gesellschaft. Sie sind ein „Platzhalter für gesellschaftliche Debatten […] [und] ein Brennglas, durch das hindurch sich der Grund des gesellschaftlichen Seins und Zusammenseins erkennen lässt“ (Selke 2011: 211).

Zum Thema Tafelläden bzw. existenzunterstützende Angebote gibt es nicht nur ein breites Meinungsspektrum – und man sollte „diese Meinungen nicht gleich aufgrund der eigenen gefühlten moralischen Überheblichkeit […] negieren“ (Selke 2011: 215) –, sondern in einer Intensität wie bei kaum einem anderen gesellschaftlichen Phänomen unterscheiden sich Wahrnehmung und Beurteilung aufgrund von stark unterschiedlichen individuellen Wert- und Normvorstellungen mit Blick auf die Tafelarbeit. Deshalb gilt: Man muss distanziert aus verschiedenen Perspektiven auf die Tafelbewegung blicken. Ein bloßes Pro und Contra, wie es in der allgemeinen Tafeldiskussion verbreitet ist, kann angesichts der Komplexität des Themas nicht überzeugen.

Die Befassung mit der Tafelarbeit hat unter anderem wegen der steigenden Anzahl armutsgefährdeter Menschen, die dieses Angebot nutzen (müssen), eine hohe ethische Relevanz. In Bezug auf Armut und Reichtum „offenbart sich mehr und mehr eine eklatante Gerechtigkeitslücke“ (Krockauer 2010: 166).

Im Folgenden soll zunächst mit Zahlen und Fakten zur Armut in Deutschland (1.), mit Erläuterungen zur Herausforderung von ausreichender und gesunder Ernährung im Kontext von Armut (2.) und mit Informationen zur Entstehung und Entwicklung der Tafellandschaft in Deutschland (3.) eine Grundlage geschaffen werden, auf deren Basis im zweiten Schritt die ethische Reflexion erfolgt: aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer (4.), aus sozialpolitischer (5.) sowie aus christlich-sozialethischer Perspektive (6.). Die Überlegungen werden mit einem Fazit (7.) abgeschlossen.