Stay At Work. Zur Situation der Live-In-Pflege in der Corona-Krise

Geschrieben am 24.06.2020
in: Publikationen

Im Rahmen des Forschungsprojektes "Modelle der Live-In-Pflege" ist in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift für soziales Arbeiten "Soziale Sicherheit" ein Artikel von Simone Habel und Theresa Tschenker zur Live-In-Pflege in der Covid-19-Pandemie erschienen.

Den Artikel zum Nachlesen finden Sie hier und in diesem Eintrag:

Stay At Work. Zur Situation der Live-In-Pflege in der Corona-Krise

Von Simone Habel und Theresa Tschenker

In kaum einem Bereich hat sich die Pflegekrise während der COVID-19-Pandemie deutlicher gezeigt als in der Live- In-Pflege. Anhand von sechs qualitativen Experteninterviews(1) mit Vermittlern und Vermittlerinnen von Live-Ins auf dem »grauen Markt« der häuslichen Betreuung und Pflege konnten die in der COVID-19-Pandemie aufgetauchten Probleme und Lösungsansätze der Agenturen erhoben werden. Diese werden in den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte um die Beschäftigungsbedingungen in der Live-In-Pflege eingebettet.

In der Live-In-Pflege übernehmen Arbeitsmigrantinnen(2) aus Ost- und Mitteleuropa Haushalts- und Betreuungsaufgaben sowie Aufgaben der Grundpflege in deutschen Privathaushalten mit Pflegebedarfen. Die Frauen leben in der Regel über mehrere Monate in den Haushalten der pflegebedürftigen Personen und werden deshalb als Live-Ins bezeichnet. Neben der unbezahlten Pflegearbeit und der stationären und ambulanten Altenpflege bildet die Live-In-Pflege eine tragende Säule des deutschen Pflegesystems. Auch wenn die Schätzungen zur Anzahl der Live-Ins stark divergieren(3), leisten die Migrantinnen in der Live-in-Pflege selbst bei vorsichtiger Schätzung ein Viertel der bezahlten Pflegearbeit in Deutschland.(4) Während 90 Prozent der Live-Ins in illegalisierter Beschäftigung arbeiten, sind nur zehn Prozent über Einrichtungen und Agenturen in Deutschland tätig.(5)

Die gesamte Branche ist von erheblicher Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten vor allem hinsichtlich der Arbeitszeitproblematik geprägt. Die prekären Arbeitsbedingungen, insbesondere die häufige Überschreitung der Höchstarbeitszeit, ist in rechts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bereits vielfach erforscht worden.(6) Die Agenturen und Einrichtungen greifen, um sich vom »Schwarzmarkt« abzugrenzen, auf einen rechtlichen Rahmen zurück, setzen aber die nationalen und unionsrechtlichen Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmerinnen nicht umfassend um. Aus diesem Grund ist vom »grauen Markt« der Live-In-Pflege die Rede.(7) Die Agenturen, von denen ein kleiner Anteil über Verbändestrukturen politische Lobbyarbeit betreibt, sind in ihrer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der Live-In-Pflege nicht zu unterschätzen. Der Großteil der illegalisiert arbeitenden Live-Ins bleibt hingegen in der Öffentlichkeit ungehört. 

Zu Beginn des europaweiten Lockdowns war in zahlreichen Medienberichten zu lesen, dass die Live-Ins nicht mehr nach Deutschland einreisen konnten und Familien plötzlich ohne Betreuungskraft waren. Die Pandemie verschärfte die bestehenden prekären Beschäftigungs- und Betreuungssituationen für Familien und Live-Ins und machte sie gleichzeitig sichtbar. Insbesondere die Agenturen und deren Interessenverbände kamen in den Berichten zu Wort.(8) Im Rahmen des Forschungsprojekts »Modelle der Live-In Pflege« befragten wir sechs Leitungen und Beschäftigte von Vermittlungsagenturen und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege zu Problemen der COVID-19-Pandemie und ihren bisherigen Lösungsansätzen zu diesen. Die Gespräche fanden vom 27. März bis 16. April 2020 statt und fielen damit in die Anfangsphase der staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Wir führten die Interviews mit jeweils zwei Vertretern des Arbeitgebermodells, des Selbstständigenmodells und des Entsendemodells.(9) Die leitfadengestützten Expertenterviews(10) wurden mittels der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz(11) ausgewertet. Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Darstellungen der Vermittlerinnen und Vermittler zu den durch die COVIDd-19-Pandemie entstandenen Problemen und im zweiten Teil die Lösungsstrategien analysiert. 

Probleme: »Und wir müssen dann, von heute auf morgen, plötzlich die Betreuung von Hilfsbedürftigen sicherstellen.« 

Die Pflegekrise wird durch die Pandemie verschärft und führt zu vielseitigen und akuten Problemen. Aus Sicht der Vermittlungsagenturen stellen die staatlichen Einreisebeschränkungen und Quarantäneregelungen sowie die Folgen für die Reisemöglichkeiten der Live-Ins die größte Hürde dar. Die Schließung der Grenzen, insbesondere der deutsch-polnischen, bringt viele Probleme für das eigene Geschäftsmodell mit sich: »Wir leben ja von der Entsendung und der Freizügigkeit in Europa.« Die Agenturen üben starke Kritik an der zunächst ergangenen Regelung, dass nach Grenzübertritt eine 14-tägige Quarantäne von den Live-Ins sowohl in Deutschland als auch in den Herkunftsländern wie beispielsweise Polen und Kroatien erfolgen soll. 

In Bezug auf die Umsetzung der Quarantänemaßnahmen kritisieren die Agenturen zudem die unterschiedlichen Regelungen von Bundesland zu Bundesland und die uneinheitliche Umsetzung der Infektionsschutzmaßnahmen durch die Gesundheitsämter. Ein Interviewpartner stellt fest: »Die Gesundheitsämter setzen die Quarantäne aber auch nicht voll durch gegen unsere Betreuungspersonen. Warum nicht? Dann müssten ja die Pflegebedürftigen in eine stationäre Einrichtung. Und das Gesundheitsamt müsste das organisieren.« Die bereits bestehende Pflegekrise führt dazu, dass die Infektionsschutzbestimmungen der Gesundheitsämter für Live-Ins effektiv nicht umgesetzt werden können. 

Außerdem bewirkt die Grenzpolitik einen fast vollständigen Zusammenbruch des internationalen öffentlichen Personennahverkehrs. Fast alle Interviewten beklagen, dass es nur unter erheblichem Arbeitsaufwand und höheren Kosten möglich oder gar vollkommen unmöglich sei, eine internationale Reise für die Live-Ins zu organisieren. Für Live-Ins, die irregulär beschäftigt sind und somit nicht auf Transportmittel der Agenturen zurückgreifen können, stellt der Ausfall des Fernverkehrs eine besondere Herausforderung dar, wie eine befragte Person verdeutlicht: »Der Schwarzmarkt ist natürlich zusammengebrochen, weil die auch auf den Transport angewiesen sind, wenn die nicht fahren können, geht’s nicht.« 

Die Pandemie und die Bewältigungsstrategien seien von einer unvorhersehbaren Dynamik geprägt. Vor allem zu Beginn der Pandemie haben sich die Regulierungen, Maßnahmen und die aus Sicht der Pflegeanbieter zu lösenden Probleme täglich geändert. Die Unübersichtlichkeit der Informationen und die fehlende Planbarkeit erschwere die Arbeit der Agenturen und Einrichtungen. Insgesamt herrscht bei den Vermittlern und Vermittlerinnen große Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Betreuungssituation, weil nicht abzusehen sei, ob die Frauen ihre Tätigkeit noch länger fortsetzen würden beziehungsweise zukünftig nach Deutschland zum Arbeiten kommen würden. 

Diese zentrale Rolle der Live-Ins in der Pandemie wird in den Experteninterviews am häufigsten thematisiert. Aus Sicht der Vermittler führt die COVID-19-Pandemie bei den Live-Ins zu erheblicher Unsicherheit und Angst: »Also, das erste, das größte Problem war natürlich die Angst.« Die Sorgen der Live-Ins und vor allem ihre stark variierenden Reaktionen, die teilweise als unvorhersehbar und willkürlich bewertet werden, stellen für die Agenturen eine der großen Herausforderungen bei der Pandemiebewältigung dar. 

Die Angst der Live-Ins war dabei keineswegs unberechtigt. Sie speiste sich aus den Unwägbarkeiten der neuartigen Situation. Aus Sicht der Agenturen bestand unter den Live-Ins insbesondere große Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus. Wie hoch das Ansteckungsrisiko auf den Reisen zwischen Herkunftsland und Arbeitsort und in den Haushalten selbst sei, konnten sie nicht einschätzen. Nicht nur um sich selbst, sondern auch um die Angehörigen in den Herkunftsländern hätten sich die Live-Ins Sorgen gemacht. Hinzu seien die Entfernung von der eigenen Familie und die Sprachbarrieren bei der Informationsbeschaffung vor Ort gekommen. Die Angst, sich speziell in Deutschland anzustecken, sei enorm gewesen, denn Deutschland habe beispielsweise gegenüber Polen eine höhere Zahl von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus gehabt. Insbesondere die Befürchtung, die Pandemie könne ein ähnliches Ausmaß wie in Italien oder Frankreich annehmen, habe die Frauen in der ersten Zeit des Lockdowns verunsichert. Aber nicht nur die deutsche Situation beunruhige die Live-Ins, sondern auch die unwägbaren Zustände in den Herkunftsländern. Zusätzlich habe die mediale Berichterstattung zur Verunsicherung der Live-Ins beigetragen. 

Die Live-Ins pendeln regelmäßig zwischen Arbeits- und Wohnort und müssen hierbei Ländergrenzen überwinden. Nicht nur die Ansteckungsgefahr auf der Reise, auch die Unsicherheiten über die Transportbedingungen haben nach Aussage der Agenturen eine starke Wirkung auf die Live-Ins gehabt. Sie seien verunsichert gewesen, ob und wann sie nach Deutschland zum Arbeiten fahren und auch ob und wann sie zurückkehren könnten. Eine interviewte Person berichtete davon, dass ukrainische Live-Ins aufgrund der Grenzschließungen in Deutschland und in Polen steckengeblieben seien. Zudem sei nicht klar, welche zusätzlichen Kosten für die Live-Ins durch die Pandemie entstünden. Die Unsicherheit darüber, ob die Krankenversicherung, sofern überhaupt eine vorläge, für eine plötzlich notwendig werdende Behandlung aufkomme, sei ein weiterer besorgniserregender Faktor. 

Aus den vielfältigen Ängsten und Unsicherheiten der Live-Ins folgen divergierende Reaktionen. Einige seien »Hals über Kopf« abgereist, andere seien bei der pflegebedürftigen Person geblieben. Auch die Anwerbung von zusätzlichen Arbeitskräften stelle ein Problem dar, weil sich weniger Frauen bei den Agenturen melden. Für den illegalen Pflegemarkt äußert sich eine Expertin dahingehend, dass die Anzahl der plötzlich nicht mehr betreuten Pflegebedürftigen noch viel höher sein müsse, da diese Pflegekräfte größere Probleme bei der Wiedereinreise nach Deutschland haben dürften. Alle Interviewten bestätigten uns, was sich bereits zuvor in den Medienberichten abgezeichnet hatte: Die Gesamtzahl der Live-Ins in Deutschland reduzierte sich. Die Versorgungslücke bei pflegebedürftigen Personen sei eine gravierende Folge der Pandemie gewesen: »Und wir müssen dann, von heute auf morgen, plötzlich die Betreuung von Hilfsbedürftigen sicherstellen.« 

An dieser Stelle zeigen sich die Narrative der Agenturen und Einrichtungen allerdings auch als widersprüchlich, da alle Interviewten betonen, dass viele Betreuungskräfte dageblieben seien. Einige sprechen sogar davon, dass eine verfrühte Abreise die Ausnahme gewesen sei. Die Motive der Live-Ins, ihren Arbeitsaufenthalt zu verlängern, seien breit gefächert. Sie reichten von der Angst vor der risikobehafteten Reise und der Hoffnung auf eine bessere gesundheitliche Versorgung in Deutschland über die empfundene Verantwortung gegenüber den Pflegebedürftigen bis hin zum Vermeiden der zweiwöchigen Quarantäne nach Grenzübertritt. Auch hätten sich Live-Ins – trotz der erschwerten Reise – oftmals für die Rückkehr nach Deutschland entschieden, weil sie aufgrund ihrer Lohnabhängigkeit auf die Tätigkeit angewiesen seien, wie unter anderem diese Aussage einer interviewten Person zeigt: »Auf der anderen Seite haben die Damen [die Live-Ins] gar keine Wahl. Das ist ja nicht wie in Deutschland, wenn die zu Hause bleibt, dass die dann was verdienen, da ist ja nichts, da gibt’s ja nicht das große Geld.« 

Bemerkenswert ist, dass lediglich eine Interviewte erwähnt, dass »noch keine ernsthaften Erkrankungen bei den Betreuungskräften [vorlägen], auch bei den Kunden […] alles sehr glimpflich verlaufen« sei. Die Experten problematisieren somit nur in einem Fall direkt, dass die Arbeit in der Live-In-Pflege in engem Kontakt mit besonders gefährdeten Personen durchgeführt wird. Auch bei den ausführlichen Beschreibungen der Sorgen der Live-Ins, wird die Ansteckung der betreuungsbedürftigen Person nicht genannt, obwohl es bei der Arbeit mit einer Risikogruppe nahegelegen hätte. 

In der Hälfte der Interviews stellen die Befragten die Pandemiebewältigung in erster Linie als zusätzlichen Arbeitsaufwand ihrer Beschäftigten dar. Viele der regulären Tätigkeiten, wie das Anwerben von Neukunden, bliebe durch das erhöhte Arbeitspensum auf der Strecke. Zusammenfassend identifizieren die Interviewpartnerinnen und -partner die Sorgen und die unberechenbaren Reaktionen der Live-Ins, die Grenzpolitik und Quarantänemaßnahmen sowie den dadurch verunmöglichten oder nur unter erhöhtem Arbeits- und Kostenaufwand stattfindenden Transport der Live-Ins als Hauptprobleme der Pandemie. 

Lösungsansätze: »Wir appellierten natürlich im ersten Schritt auch, dass die mal länger bleiben sollen.« 

Aufgrund des Ausfalls des internationalen öffentlichen Fernverkehrs seien alternative Transportmittel für die Anund Abreise der Live-Ins notwendig geworden. Die Agenturen berichten, dass einige Live-Ins beispielsweise aus Polen auf private Anreisen oder Kleinbusse zurückgreifen mussten. Zudem nahmen die Agenturen in dieser Problematik eine zentrale Rolle ein und versuchten, Möglichkeiten des Transports der Live-Ins zu unterstützen oder selbst zu gewährleisten. Einzelne Agenturen hätten eigene Transportmittel – wie zum Beispiel eine Buslinie – für Live-Ins bereitgestellt. So beschreibt ein Vermittler: »Wir haben ein Transportsystem von der polnischen Betreuungskraft zu Hause in Polen bis hin zu den Kunden vor Ort.« Die Transporte seien mit spezifischen Sicherheitsvorkehrungen wie der Befragung zur Gesundheit durch den Fahrer und Temperaturmessung vor dem Einstieg versehen. Auch seien öffentliche Fluglinien für die Anreise von Live-Ins beispielsweise aus Kroatien genutzt worden. Die hierbei entstandenen Zusatzkosten für die Anreise seien in Teilen von den Agenturen oder über Corona-Zuschüsse vom Staat und in Teilen von den Familien der Pflegebedürftigen getragen worden. 

In Bezug auf Grenzpolitiken, stellen die Befragten dar, dass Live-Ins als Pendler und Beschäftigte im Gesundheitswesen Grenzen passieren dürften. Hierfür sei jedoch ein sogenannter Passierschein notwendig, in dem die Arbeitbeziehungsweise Auftraggeber ein Arbeits- beziehungsweise Dienstverhältnis bescheinigt. Nach einer Interviewaussage sind »diese Passierscheine […] für alle, außer die illegalen Betreuungspersonen aus Polen und aus der Ukraine, aktuell die einzige Chance, nach Deutschland reinzukommen«. Den Agenturen zufolge stelle der Passierschein für illegalisierte Live-Ins, die diesen Nachweis nicht erbringen können, ein deutliches Hindernis dar. 

Zugleich schildern die Agenturen Fälle, in denen Live-Ins trotz Arbeitsbescheinigung Grenzen nicht passieren durften. Eine besondere Rolle in den skizzierten Lösungsansätzen der Agenturen bezüglich des Transportes und der Grenzpolitiken spielen die Verbände der Vermittlungsagenturen VHBP (Verband für häusliche Pflege und Betreuung e. V.) und BHSB (Bundesverband häusliche SeniorenBetreuung e. V.). So stellt eine Vermittlerin heraus, dass sie über den Verband »eine direkte Linie zum Gesundheitsministerium haben, wo wir in diesen verschiedenen Verordnungen doch versuchen, irgendwo eine Ausnahme für uns zu finden«. Wie von den Agenturen dargestellt, sei das Bundesgesundheitsministerium in der Krise an den Verband herangetreten, um Bedürfnisse und Forderungen zu erfragen. Den Befragten zufolge sei die Ausnahmeregelung für Live-Ins in Bezug auf Grenzübertritt und Quarantänebestimmungen infolge dieser Kommunikation entstanden. Hier werden eine starke Vernetzung und politische Sichtbarkeit der Vermittlungsagenturen deutlich. Da die Live-Ins auf politischer Ebene nicht in ähnlichem Maße die Möglichkeit haben, selbst für ihre Belange zu sprechen, werden die Agenturen zum Sprachrohr der Anliegen der Branche und können ihre Interessen so sichtbar machen. 

Das zweite zentrale Maßnahmenbündel der Agenturen betrifft den potenziellen Wegfall der Arbeitskraft. Hierauf reagieren die Agenturen primär, indem sie durch verschiedene Formen der Kommunikation mit den Live-Ins sowie durch finanzielle Anreize eine Verlängerung der Arbeitszyklen anstreben. Fast alle Agenturen betonen die Intensität und Häufigkeit der Kommunikation mit den Live-Ins als Reaktion auf die Krise (»sehr intensive Gespräche, wo wir sie beraten«, »sehr lange mit den Kräften telefonisch in Kontakt«). In diesen Darstellungen lässt sich ein Spannungsfeld erkennen: Einerseits bestehe die Kommunikation aus einer Form von Aufklärung, die den Live-Ins seriöse Informationsquellen aufzeigen soll: »Wo bekommt ihr […] geprüfte Informationen und wo wird nur Panik geschürt.« Dabei gehe es darum, »durch sachliche Information soweit die Menschen zu informieren, dass sie selber die Entscheidungen treffen«. Die selbstgewählte Entscheidung der Live-Ins, zu bleiben oder zu gehen, wird hierbei betont. Information und Aufklärung sollten lediglich zu einer informierten Entscheidung und zur bestmöglichen Lösung für Live-Ins und Familien mit Pflegebedürftigen beitragen. Andererseits nehmen die Agenturen in der Kommunikation mit den Live-Ins durch Überzeugungsarbeit deutlichen Einfluss auf deren Entscheidungen. So sagt ein Vermittler: »Wir appellierten natürlich im ersten Schritt auch, dass die mal länger bleiben sollen«. Die Aufforderung »Bleib, wo du bist!« stellt in einem Interview die »beste Idee« dar. Auf argumentativer Ebene wird von Seiten der Vermittlungsagenturen auf die Ansteckungsgefahr beim Reisen und das sehr gut aufgestellte deutsche Gesundheitssystem verwiesen. 

Zudem bieten die Agenturen finanzielle Anreize, um die Live-Ins zur Verlängerung ihres Arbeitszyklus zu motivieren beziehungsweise diese zu belohnen. So gibt eine Vermittlerin an: »Wir haben den Betreuerinnen empfohlen, jetzt ihre Preise zu erhöhen in der Zeit. Weil alle aktuell höhere Preise bezahlen.« Ihr zufolge verdienen die Live-Ins 100 bis 200 Euro mehr im Vergleich zu ihrem üblichen Einkommen. Auch den Familien mit Pflegebedürftigen werde empfohlen, einen Bonus von 300 Euro zu bezahlen, wenn die Live-Ins bereit sind, ihre Arbeitszeit zu verlängern. Einer Agentur zufolge wird dies von den Live-Ins als »hohe Wertschätzung « wahrgenommen. Darüber hinaus wird von den Agenturen positiv hervorgehoben, dass das Bundesland Bayern – in Anlehnung an den »Bleib da«-Bonus für Live- Ins in Österreich – entschied, dass nicht nur Pflegekräfte in ambulanten und stationären Einrichtungen, sondern auch Live-Ins 500 Euro »Pflegebonus« erhalten. Zudem können den Agenturen zufolge selbstständige Live-Ins die staatlichen Corona-Zuschüsse für Soloselbstständige beantragen und beispielsweise erhöhte Reisekosten und eine Entschädigung für die Quarantänezeit im Heimatland erhalten, worin sie in der Beantragung auch von Agenturen unterstützt würden. 

Es wird deutlich, dass die Agenturen den potenziellen Ausfall der Live-Ins durch verschiedene Formen von Kommunikation (Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit) sowie durch finanzielle Anreize versuchen zu verhindern. In dieser Sondersituation, in der es zu einer deutlichen Verknappung der Anzahl der Live-Ins kommt, scheinen somit in einigen Fällen finanzielle Spielräume bei der Lohnzahlung möglich. Die Agenturen zielen in erster Linie auf eine Verlängerung der Arbeitszyklen der Live-Ins. Da die Arbeitsbedingungen der Live-Ins häufig durch eine deutliche Überschreitung der Höchstarbeitszeit gekennzeichnet sind, bedeutet eine Verlängerung der Arbeitszyklen in vielen Fällen auch eine Verlängerung des von entgrenzter Arbeitszeit gekennzeichneten Arbeits- oder Dienstverhältnisses der Live-Ins. 

Eine weitere Reaktion der Agenturen auf einen potenziellen Ausfall ist der Einsatz sogenannter »Springer«-Live- Ins. Da es derzeit schwierig sei, einen Ersatz für kurzfristig ausgefallene Live-Ins zu finden, gibt eine Agentur an, Live- Ins in Hotels untergebracht zu haben, um diese kurzfristig einsetzen zu können. Diese seien quasi im Bereitschaftsdienst, damit die Agentur eine kontinuierliche Betreuung der Familien bereitstellen könne. Jedoch sind auch Fälle zu nennen, in denen die Agenturen für kurzfristig abgereiste Live-Ins keinen Ersatz bereitstellen konnten. So beschreibt ein Vermittler: »Also diese Situation haben wir auch, wo tatsächlich die Betreuung durch die Familie übernommen werden musste, soweit es ging.« Hier wird – wie auch an anderen Stellen – sichtbar, dass in der Corona-Krise verstärkt auf unbezahlte familiäre Sorgearbeit zurückgegriffen wird. 

Schließlich haben die Agenturen nach eigenen Angaben mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen auf die Corona- Krise reagiert. So seien verschiedene Verhaltensanweisungen durch die Agenturen an die Live-Ins und Familien mit Pflegebedarfen erfolgt. Eine Befragte berichtet: »Wir sind auf die Familien und die Betreuungskräfte zugetreten und haben gesagt: […] geht in eine Selbstquarantäne, also dass die betreuende Person und die Betreuungskraft […] weitgehend sich von der Außenwelt isolieren und dass die Angehörigen oder auch Nachbarnetzwerke versuchen, dann die Leute von außen zu versorgen.« Diese Form der »Selbstquarantäne« aufgrund der Arbeit mit einer Hochrisikogruppe umfasst nach Angaben der Agenturen, dass außerhäusliche Einkäufe durch externe Personen oder online erledigt werden, damit »die Dame [die Live-In] nicht raus muss und einkaufen gehen«. Auch zielt die »Selbstquarantäne « darauf ab, den Kontakt zu Außenstehenden auf ein Mindestmaß zu senken und keine Besuche zu Hause zu empfangen. In Bezug auf die bereits genannten besonderen Arbeitsbedingungen in der Live-In-Pflege ist hervorzuheben, dass die Live-Ins während des Aufenthalts in der Wohnung der pflegebedürftigen Person oft dauerhaft in Bereitschaftszeit stehen. Die Aufforderung, die Wohnung möglichst nicht zu verlassen, hat daher mit großer Wahrscheinlichkeit eine deutliche Erweiterung der Arbeitsbeziehungsweise der Bereitschaftszeit zur Folge. 

Während Corona für große Teile der Bevölkerung mit dem Appell »Stay at home« einhergeht, beinhaltet dieser im Fall der Live-In-Pflege kein temporäres Arbeiten im Home Office. Vielmehr bedeutet die Aufforderung »Stay at home« für Live-Ins oft das Verbleiben am Arbeitsplatz. Der in der Pandemie entwickelte Appell »Stay at Home« wandelt sich unseres Erachtens für die Live-Ins zu »Stay at Work«. 

Fazit: Eine Branche unter Druck 

In der COVID-19-Pandemie ist die gesamte Pflegebranche zunehmend unter Druck geraten. In diesem Artikel ist die spezifische Situation der Live-in-Pflege unter Corona aus Perspektive der Vermittlungsagenturen beleuchtet worden. Wie deutlich geworden ist, war diese auf transnationaler Mobilität basierende Branche durch Ausfall von Transportmitteln und Grenzschließungen erheblich von der Pandemie betroffen. 

In der Krise kommt den Vermittlern von Live-In-Pflegekräften eine entscheidende Rolle zu. Sie organisieren alternative Transportmittel, führen Absprachen mit Gesundheitsämtern und setzen sich auf politischer Ebene für ihre Interessen hinsichtlich Grenzpolitiken und Quarantänebestimmungen ein. Zudem versuchen die Agenturen über Informations- und teilweise auch Überzeugungsarbeit bei den Live-Ins zu bewirken, dass diese ihre Arbeit fortführen. Die Agenturen reagieren auf die von ihnen identifizierten Probleme somit überwiegend durch eine Verlängerung der Arbeitszyklen der Live-Ins. Die Aufforderung »Stay at home« wird für die Live-Ins zum Apell »Stay at work«. Wurden im Gesundheits- und Sozialwesen die Maximalarbeitszeiten durch Verordnung des Arbeitsministeriums auf Zwölf-Stunden-Schichten erweitert, verlängern die Live- Ins ihre eh schon entgrenzte Arbeitszeit um eine weitere Zwölf-Wochen-Schicht. An der Arbeitszeitproblematik ändert sich auch dadurch nichts, dass die Live-Ins der Verlängerung ihrer Einsatzphasen freiwillig zustimmen und dafür Zuschläge ausgezahlt bekommen. 

Die Pandemie erscheint aus Sicht der Agenturen als Krise, die vor allem zusätzliche Kosten und Mehrarbeit auf Seiten der eigenen Beschäftigten beispielsweise in der Koordination verursacht. Die längeren Arbeitszyklen und die sehr wahrscheinlich auch ausgedehnten Bereitschaftszeiten spielen in den Interviews keine Rolle. Auch kommen die erheblichen Gesundheitsgefahren für die beteiligten Risikogruppen erstaunlich selten zur Sprache. 

Die Perspektive der Vermittlerinnen als zentrale Akteure der Branche gilt es im Weiteren im Auge zu behalten. Als mindestens genauso relevant erachten wir die Sichtweisen der Live-Ins, deren Perspektive im vorliegenden Beitrag nicht erörtert wurde. Zu den Arbeitsbedingungen der Live- Ins, insbesondere in Zeiten der Pandemie besteht aus unserer Sicht weiterer Forschungsbedarf.


1 Der BUND-Verlag verwendet in seinen Zeitschriften keine geschlechtsneutrale Schreibweise mit Unterstrich oder Sternchen. So weit im Text nicht explizit gekennzeichnet, sind stets alle Geschlechter gemeint. 

2 Um die deutliche Dominanz von Frauen in der Live-in-Pflege abzubilden, verwenden wir im Folgenden für die Pflegekräfte ausschließlich die weibliche Form. 

3 In ihrer Studie nehmen Hielscher et al. an, dass 163.000 Pflegehaushalte Live-Ins beschäftigen (Volker Hielscher / Sabine Kirchen-Peters/ Lukas Nock: Pflege in den eigenen vier Wänden: Zeitaufwand und Kosten. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen geben Auskunft (HBS-Study 363), Hans- Böckler-Stiftung. Düsseldorf 2017, S. 95); Thomas Klie geht in einer Schätzung von 600.000 Pflegekräften in der Live-In-Pflege aus (Helma Lutz: Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-Migration im geteilten Europa, Basel/Weinheim 2018, S. 29). 

4 Bernhard Emunds: Überforderte Angehörige – ausgebeutete Live-Ins – Burnout-gefährdete Pflegekräfte. Sozialethische Bemerkungen zur verweigerten sozialen Wertschätzung Pflegender in Deutschland, in: Michael Fuchs/Dorothea Greiling/Michael Rosenberger (Hg.): Gut versorgt? Ökonomie und Ethik im Gesundheits- und Pflegebereich (Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft 6), Baden-Baden, 2019, 147–167, S. 155. 

5 Diesen sehr hohen Anteil irregulärer Beschäftigung nennt beispielsweise auch der Verband der Vermittlungsagenturen (VHBP: Ziele; online abrufbar unter: www.vhbp.de/ziele/#c91 (Stand: 28.5. 2020)). 

6 Hierzu exemplarisch Juliane Karakayali: Transnational Haushalten. Biografische Interviews mit care workers aus Osteuropa, Wiesbaden, 2010; Barbara Bucher: Rechtliche Ausgestaltung der 24-Stunden-Betreuung durch ausländische Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten. Baden-Baden 2018.

7 vgl. Verena Rossow/Simone Leiber: Entwicklungen auf dem Markt für »24-Stunden-Pflege«, in: Apuz, 33/34/2019, S. 37–42; Verena Rossow/ Simone Leiber: Zwischen Vermarktlichung und Europäisierung. Die wachsende Bedeutung transnational agierender Vermittlungsagenturen in der häuslichen Pflege in Deutschland, in: Sozialer Fortschritt 66/2017, S. 285–302. 

8 vgl. statt vieler Gottlob Schober: Versorgungsnotstand wegen Corona?, 24.3. 2020, www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/corona-pflegekraefte- notstand-101.html (Stand: 28. 5. 2020) 

9 Zu den einzelnen Modellformen vgl. Bucher (Fn. 6); Eva Kocher: Der rechtliche Rahmen der 24-Stunden-Pflege in Deutschland, in: Clarissa Rudolph/ Katja Schmidt (Hrsg.): Interessenvertretung und Care. Voraussetzungen, Akteure und Handlungsebenen, Münster 2019, S. 195–213. 

10 Zur Methodik vgl. Robert Kaiser: Qualitative Experteninterviews. Konzeptionelle Grundlagen und praktische Durchführung, Wiesbaden 2014. 

11 vgl. Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3. Aufl. Weinheim; Basel 2016, S. 97ff.